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Kurzgeschichte: Der Augenblick des Augenblicks

Der Augenblick des Augenblicks

Ich hasse Sonntage. Klar, sie sind eigentlich toll, weil niemand muss arbeiten, zur Schule gehen und alle haben ganz viel Zeit zum Schlafen und für weitere wichtige Dinge. Nur einer muss arbeiten. Der Priester. Und die musikalischste Seniorin, die in der Gemeinde auffindbar ist und zudem noch aus eigenen Kräften die Orgel erreichen kann. Wobei: Wirklich Arbeit kann man das wohl auch nicht nennen.

Was so schlimm daran ist, dass der Priester Sonntags arbeiten muss? Immerhin bekommt er Wochenend-Zuschlag, fährt relativ sicher in den Himmel auf und darf ein weißes Stück Papier am Kragen tragen. Ganz einfach: Ich muss zur Kirche gehen und ihm bei der Arbeit zuschauen. Sonntags. Um 9 Uhr.

„Sven Luttgers.“

Und ich hasse die Kirche. Die Hälfte der Leute sitzt gezwungenermaßen in den engen und unbequemen Eichenbänken, oder heuchelt vor, gläubig zu sein, nur um das eigene Gewissen von weiteren Jahren Fegefeuer zu befreien. Unbequeme Bänke sind doch eigentlich eine Ausgeburt des Teufels, damit man nicht einschlafen kann. Das schlimmste sind allerdings die Leute, die aus voller Überzeugung und Gottesliebe jeden Gott-Verdammten Sonntag 3.600 Sekunden ihrer teils wertvollen Lebenszeit verschwenden.

„Clara Winz.“


Und die merken das ja noch nicht einmal. Denken, es wäre das schönste, Sonntags um sieben Uhr aufzustehen, sich und die Gehilfe heraus zu putzen und einen halben Tagesmarsch zum Erreichen der knapp 200 Meter entfernten Kirche zurück zu legen. Egal, deren Problem. Was ich hier mache? Auch einfach: Meine Mutter zwingt mich. Heute musste ich sogar einen Anzug anziehen. Dass ich das in meinem Alter überhaupt noch mit mir machen lasse. Aber sie hat mit Taschengeldentzug gedroht – was bleibt mir also anderes übrig?

„Richard Strauss.“

Immer wieder diese Stille. Das hasse ich auch. Der Pfarrer sagt einen Satz, er hallt nach, und alle sind still. Letzte Woche habe ich mit Tobias gewettet, er würde sich nicht trauen, ein Plakat mit der Aufschrift „SATAN“ hoch zu halten und dabei selbiges in eine der großen Schweigepausen zu brüllen. Er hat sich nicht getraut. Feigling!

„Tim Siebert.“

„Satan!“ denke ich laut in mich hinein. Warum sollte ich es auch jetzt schreien? Ich habe ja gar kein Plakat parat. Wie jeden Sonntag inspiziere ich all die Trottel, die gekommen sind. In der Regel sind das immer die gleichen. Die gleichen Leute, die gleichen Lieder, der gleiche Pastor und die gleichen Messdiener. Wobei… Heute sind es glaube ich andere.

„Lisa Göbel.“

Ob die wohl gecastet werden? Und ein dicker Senioren-Tanzlehrer aus dem Osten bringt ihnen bei, in Zweierreihen auf die Bühne Gottes zu gehen, ohne die Kerze fallen zu lassen? Wenn dem so sein sollte, wurde diese Woche schlecht gecastet. Nur eine der jungen Damen sieht hübsch aus.
„Jennifer Schate.“

Ich mustere sie von oben nach unten und wieder zurück. Was hatte ich auch anderes zu tun?! Brünette, schöne lange Haare, zum Zopf gebunden, große Rehaugen und wollüstige Lippen. So sieht meine Traumfrau aus. Und die Messdienerin war nah dran. Ein wohlgeformter Körper und ein hübsches Lächeln. Lächeln? Sie lächelt doch nicht etwa zu mir, oder? Ich schaue mich verwundert um. Niemand anderes da. Also niemand im zeugungsfähigen Alter. Den Blick, den sie mir zuwirft möchte ich am liebsten in meine Erinnerungskiste unter dem Bett verstauen. Ich schmelze dahin…

„Lukas Reinhard.“

Psscht! Immer dieses Reingerede, wenn sich zwei junge Menschen kennen lernen wollen. Kein „Geht raus und paaret euch“ parat? Ihr Augenblick wird immer tiefer und direkter. Ich wähne mich in Gedanken, diesen Blick jeden Morgen für den Rest meines und vielleicht auch ihres Lebens zu sehen.

„Lukas Reinhard!“

Mein Unterbewusstsein sagt mir, dass auch andere Menschen zu mir schauen, aber das ist egal. Den leichten Stups gegen die Schulter von meinem Vater sehe ich als anerkennende Geste an, ein so heißes Weib gerissen zu haben. Oh ja, das ist sie. Heiß, wie ein Osterfeuer. Mindestens.

„Lukas Reinhard?!?!“

Auf einmal schüttelt es mich aus allen Hochzeitsträumen. Besser gesagt, meine Mutter schüttelt mich. Ich begreife die Situation und stehe scharmerrötet auf. Langsam schreite ich durch meine Reihe, über den Mittelgang, auf die kleine Bühne und hocke mit vor den Vertreter Gottes auf Erden. Er gibt mir Brot, das nicht wie Brot und Wein, der nicht wie Wein schmeckt. Ich schaue zur heißen Messdienerin, aber sie erwidert den Augenblick nicht. Wie peinlich. Die eigene Konfirmation verpennt. Wie konnte es schlimmer kommen, als sich vor dem Mädchen überhaupt so zu blamieren? Langsam gehe ich wieder zurück in meine Reihe. Es ist totenstill. Der Pastor setzt zum nächsten Namen an.

„SATAN!“

hallt es aus der hinteren Reihe. Tobias hält ein riesiges Plakat hoch und grinst mir verschmitzt zu. Sofort eilen zwei Gorillas von Securities zu ihm und schleifen ihn heraus. Okay, etwas übertrieben, aber die Orgelfrau hätte mir persönlich wohl Angst gemacht.

„Daniela Habeck.“

Das war’s. Ich bin nicht mehr an der Tagesordnung. Genau, wie Satan. Und dazu schulde ich Tobias nun zwei Euro.

Verdammte Kirche. Verdammte Sonntage. Verdammte Weiber.

Amen.

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