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Auf Bali geht um Vier die Sonne unter – Kapitel 9

[Mein Roman auf LangweileDich.net! Zum Beginn des Buches und was zuvor geschah: Kapitel 8]

Auf Bali geht um Vier die Sonne unter - Kapitel 9 Auf_Bali_Kapitel_09

9. Graufahren

Am nächsten Morgen fühle ich mich, als wäre ich Zinedine Zidane und hätte die gesamte letzte Nacht Kopfnüsse an italienische Schauspieler verteilt. Neben meiner Schlafcouch steht eine halbvolle Wasserflasche. Ich trinke sie in einem Zug aus. Da ich meinen richtigen Zug erwischen möchte und Flo noch pennt, schreibe ich ihm eine Nachricht.

„Danke für das nette Beherrberging, das Steak und die Stütze.
Muss meinen Zug bekommen.
Wir sehen uns!
Sven
P.S.: Sorry wegen der Kaffeemaschine…“

Natürlich werde ich ihm das Ding ersetzen. Aber als das Teil heute wieder angefangen hat, rum zu brummen und damit mein Herumbrummen halsaufwärts nur noch verstärkt hat, konnte ich mir nicht anders helfen, als dem Ganzen ein Ende zu machen. Dass Flo bei dem Aufschlag des Hammers auf das italienische Koffeinwunder nicht aufgewacht ist, hat mich nun auch nicht mehr gewundert. Für mich war das eine schwere Entscheidung, so ist es ja nicht. Entweder, es klackert weiter unaufhörlich und unberechenbar drauf los oder, es wird einen gezielten lauten Knall geben, auf den ich wenigstens vorbereitet bin. So zögert man schon einmal mit einem verkaterten Kopf, ob man mit einem Hammer auf ein metallernes Etwas schlägt. Da kann man sich ja gleich unter eine Turmglocke stellen. Aber diesmal konnte ich nicht auf mein Herz hören, da mein Kopf unüberhörbar war. Zehn Euro habe ich ihm neben die digitale Leiche gelegt, damit er sich einen neuen Hammer kaufen kann. Ich packe schnell meine neuen Herren Hemden und die restlichen Klamotten zusammen und nehme, wie am Abend vermutlich verabredet, eine von Flos alten Unterahmgehstützen mit. Und Sven has left the building.

Das Geniale an Köln ist ja der Dom. Und damit meine ich nicht seine altgothische Architektur oder die wunderschönen Restaurationsgerüste, sondern seine simple Funktion als Orientierungspunkt. Ohne Stadtplan, iPhone oder Taxiwürde man wohl in keiner Stadt der Welt so schnell den Bahnhof finden, wie in Köln. Vor Flos Haus stehend schaue ich in die Luft, drehe mich ein wenig und erblicke auch schon die rettenden Domspitzen. Nach etwa zehn Minuten sturen Geradeauslaufens erreiche ich stolz den angepeilten Bahnhof. Drei Minuten zu spät. So habe ich wenigstens noch Zeit, mir ein Brötchen zu kaufen. Da auf die Bahn Verlass ist, fährt mein Zug pünktlich mit zehn Minuten Verspätung ein. Bereits an der Tür zur Bahn erhalte ich gnädiger weise den Vortritt.
„Oh danke, das ist aber sehr zuvorkommend von Ihnen.“
Dass ich da noch nicht vorher drauf gekommen bin. Selbst Leute, die bereits sitzen schauen kurz zu mir herüber und deuten mitleidig mit ihren Augen an, dass sie ihren Platz bereitwillig für den Krüppel mit der Stütze räumen würden. Von der Stütze leben – gefällt mir. Ich setze mich an einen schönen verwinkelten Platz ans Fenster, lege die Stütze auf meinen Nebenplatz und beschließe den verlorenen Schlaf nachzuholen. Mein Problem ist aber, dass ich in Zügen oder sonstigen sich bewegenden Sachen einfach nicht schlafen kann. Dennoch halte ich die Augen geschlossen, schon nur alleine, weil ich mich auf einer Rückfahrt befinde. Denn ich fahre grau.


Graufahren bedeutet, dass man wie es sich rechtlich gehört ein Bahnticket mit Hin- und Rückfahrt erworben hat. Üblicherweise gilt die Hinfahrt für das bestellte Hinreisedatum plus einen Tag oder so. Bei der Rückfahrt muss man sich aber nicht an die am Automaten angegebene Zeit halten. Dort gilt „Rückfahrt an 2 aufeinanderfolgenden Tagen innerhalb der Gültigkeit“. Und diese Gültigkeit ist einen Monat lang. Und mein heutiges Ziel ist demnach, dass mein Ticket nicht abgestempelt wird. Denn so behält es seine Gültigkeit bis in 27 Tagen. Das bedeutet, ich könnte noch ein Mal umsonst von Köln nach Hannover fahren. Oder aber, ich gebe das Ticket wieder zurück und streiche wenigstens ein bisschen Kohle ein. Wirklich lohnen tut sich das allerdings nur, wenn auch die Hinfahrt nicht abgestempelt wurde, was hier leider nicht der Fall ist. Und das Beste am Graufahren ist: Wird man erwischt, ist das scheißegal. Das Schlimmste, das passieren kann, ist schlichtweg, dass einem der Wisch abgestempelt wird. Game over. Chance vertan. Halt das nächste Mal. Und heute rechne ich mir super Chancen aus, das Baby ungestempelt nach Hause zu fahren. Ich möchte nach außen sichtbar ungestört ausnüchtern, bin ein offensichtlich gehbehinderter kleiner Junge, und habe zudem auch noch Kopfhörer in den Ohren. Aus denen kommt natürlich nichts raus, aber das muss ja niemand wissen. Ein Ticketkontrolleur müsste schon ein gehöriges Arschloch sein, um mich jetzt zu stören.

Und ich habe Glück: Mein Kontrolleur ist nur ein kleines Arschloch, besitzt jedoch ein Gewissen. Kurz hat er mich nach einem Ticket fragend angestubst. Weitere Anstalten wollte er dann glücklicherweise nicht machen und zog von dannen.
„Liebe Passagiere. In Kürze erreichen wir Hannover Hauptbahnhof und das Ziel der Reise von Sven Bukholz. Dort erhält er Anschluss nach Hause und den Lohn seiner hart erschufteten Graufahrerkeit. Ladies and gentlemen. In a few minutes we’ll arrive at Hanover central station and the final goal of Sven Bukholz’ journey. He can get home and has finally screwed you all.”

Glücklich ob meines Sieges gegen das System ziehe ich meine Jacke über und setze meinen Rucksack auf. Beinahe vergesse ich meine Stütze im Gang und laufe etwas deutlicher humpelnd noch einmal zurück um sie zu holen. Mich stützend stehe ich an der Tür und warte, dass der Zug zum Stillstand kommt. Und da kommt er, der gewisse Augenblick. Ich drücke auf „Play“.
Denn meiner Meinung nach gibt es nicht viel Größeres, als diese speziellen Momente der musikalischen Befreiung. Momente, in denen man einfach Lust auf das Leben hat, und Bock darauf, einen seiner Lieblingssongs voller Energie in voller Lautstärke zu hören und dabei befreiende Bilder vor seinem Auge zu haben. Dazu gehört für mich beispielsweise die Heimkehr nach einer langen Zugfahrt. Oder aber auch, der Zeitpunkt nach einer Autobahnbaustelle, an dem die Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben wird und man das Glück hat, bei einfallendem Sonnenschein kein verdammtes Auto auf den beiden linken Spuren zu sehen. Oder natürlich auch der Feierabend, an dem man nach einem harten Arbeitstag aus der Eingangstür des Unternehmensgebäudes in die verdiente Freizeit schlendert. Verstärkt natürlich vor einem Wochenende oder Urlaub. Da kann ein verpisstes Regenwetter sogar manchmal zu passen, solange die Musik stimmt. Regelmäßig rechne ich während einer Bahnfahrt die jeweiligen Trackdauern durcheinander und stelle einen bestimmten Song ein, damit ich ohne weitere Aktivität, die meinen musikalischen Moment nur verzögern und kognitiv beeinträchtigen könnte, beim Zeitpunkt der Zeitpunkte automatisch meinen Song erhalte. Die Bahnfahrt ist 28 Minuten lang, das Album bis dahin aber nur 26? Dann muss ich halt erst noch sechs Minuten warten, damit meine musikalische Untermalung möglichst perfekt ist. Der Soundtrack meines eigenen Lebens quasi. Und in diesem einen Moment, in dem das aktuelle Lieblingslied der aktuellen Lieblingsband zum aktuellen Highlight des Tages abläuft, fühlt man sich für knappe drei Minuten unantastbar. Keiner kann einem Etwas anhaben. Keiner kann einem schaden. Keiner kann einem diesen Moment vermiesen. Bis auf einen leeren Handy-Akku. Na klasse. So wird mir sogar das kleine Stück musikalisches Glück vergönnt.

Gefrustet komme ich zuhause an. Im Briefkasten finde ich nur fruststeigernde Rechnungen und Werbeschreiben, im Treppenhaus wird gerade gewischt. Ich schlängel mich an der Putzfrau mit Migrationshintergrund vorbei und erhalte von ihr einen Todesblick dafür, dass sie nun acht Sekunden unbezahlte Pause machen musste. Oben angekommen pfeffer ich meinen Rucksack in eine Ecke und schalte meinen Rechner an. Der Frust muss weg, denke ich mir und beginne mit dem Verfassen einer neuen Mail:

An: [email protected]
Von: [email protected]
Betreff: Ihre Hemdfabrikation ist suboptimal

Guten Tag,
Ich habe letztens ein Hemd von Ihnen gefunden, welches mir sehr gefällt (so ein olive-farbenes mit Vintage-Print drauf. Sie wissen schon). Seit Jahrzehnten bin ich ein Größe-M-Träger, aber Ihr Hemd in Größe M fällt für mich zu klein aus. An sich noch kein Grund zur Panik. Jedoch fällt leider ein Hemd mit der nächstgrößte Größe L zu groß für mich aus. Und als 1,74m großer, 71 Kilogramm schwerer und unschwangerer Mann sollte ich eigentlich eine Durchschnittsgröße tragen können…
Daher meine Frage: Muss man ein unförmiges Etwas sein, um Ihre Mode tragen zu können? Und wenn ja: Warum sind Ihre Hemden dann so oft ausverkauft? Sind die normalen Menschen von früher die außenstehenden Freaks der modernen Kleidungsindustrie?

Tiefachtungsvoll,
Ein verärgerter fast-Kunde

Voller Inbrunst betätige ich den Senden-Button. So eine Mail muss in einem Zug und absolut unbedacht verfasst werden, sonst verfehlt sie ihre eigentliche Wirkung: Die direkte Beschwerde, die auch ankommt. Alles andere sind pseudo-freundliche Anmerkungen, die höchstens mit einem wohlwollenden Nicken quittiert werden, ehe vom Marketingleiter des Unternehmens die Mail-Adresse für einkommende Nachrichten gesperrt wird.

Danach stelle ich mein nicht abgestempeltes Bahnticket in einem Internetforum ein. Vielleicht kann es ja ein Anderer gebrauchen und macht mir einen guten Preis dafür. Da ich gerade am Computer sitze, schaue ich noch schnell bei Wikipedia vorbei. Ich kopiere den Text aus meinem mehrmals gelöschten Beitrag zum Thema „Mettbrötchen“ und füge ihn in das existierende Thema „Mett“ unter dem Punkt „besondere Anmerkungen“ ein. Wenn schon das Mettbrötchen keine eigene Seite erhalten darf, so doch wenigstens ein eigenes Kapitel in der Mett-Saga. Und schon habe ich meine kognitiven Reserven für heute aufgebraucht. Ich schaue kurz auf meinen Notizblock, aber die nötige Aufarbeitung meiner Komikrecherchen erscheinen mir momentan als zu anstrengend. Der Körper schreit eindeutig nach passiver Unterhaltungskunst. Schlicht und ohne große körperliche Betätigung. Ich lege mich aufs Bett, schalte den Fernseher an und schiebe mir ein Käsebrot zum Frühstück-Schrägstrich-Abendbrot ein.

[Kapitel 10!]

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