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Kurzgeschichte: Die Reise (I)

Es ist sicherlich schon zwei Minuten über die reguläre Spielzeit und es steht immer noch 1:1 im Derby des Jahres. Plötzlich liegt der Ball genau vor meinen Füßen. Ich lasse elegant den letzten Verteidiger mit einer Körpertäuschung stehen und renne aufs Tor zu. Der Torhüter steht ein paar Meter zu weit vorne. Das könnte doch was werden. Angesetzt zum Lupfer… Und ja, der könnte passen! Langsam senkt er sich in den Winkel, und – OHRENBETÄUBENDER LÄRM!

Schockiert springe ich regelrecht auf und stoße mit dem Kopf an mein Bücherregal. Ich wusste, ich hätte es nicht genau über das Bett schrauben sollen. Noch etwas unorientiert fingere ich nach meinem Handy, welches auf dem Nachttisch fröhlich vor sich hin blinkt. Und noch viel schlimmer, es vibriert. Und dass „Highway to hell“ als Klingelton scheiße ist, habe spätestens jetzt auch ich gemerkt.

„ähm… ja?“
„Mensch Steffe, wo bleibse denn?“
„Wie, wo bleib’ ich?“
„Ja, stehn hier am Bahnsteig und der Zuch kommt gleisch… Urlaub is Urlaub. Hau ma rein!“
„Jaja, Urlaub ist Urlaub. Besuchen doch nur Ingo in Dortmund. Wieviel…. Oh, schon 9 durch, fuck!“
„Jahaa. Fuck im Quadrat sach isch Dir!“
„Ja.. äh.. versuch so schnell es geht zu kommen, ansonsten fahrt ihr schon mal, nehm dann ’ne Bahn später.“
„Aber was ist mit dem Bier?“
„Ach jaaa… das sollte ich auch noch mitbringen… Ähm, holt was am Bahnhof, geht auf meine Rechnung. Bringe dann Nachschub mit.“
„OK, dann is ja jut. Bis denne!“

Mist. Verdammt. Da sieht man mal wieder, wie abhängig man von so kleinen wertlosen Digitalspielereien ist. Kaum will das Handy einmal nicht morgens klingeln, verpasst man einen wichtigen, sprich privaten, Termin. Und dann ist es wieder hinterrücks teuflisch und klingelt einen bewusst ironisch mitten in die Fresse. Eineinhalb Stunden zu spät.

Jetzt kann man’s auch nicht mehr ändern. Rein in die Klamotten, PC bleibt aus und Duschen ist nicht drin. Nur schnell Waschen und Haare machen. Rasierer, Sachen zum Wechseln und das nötigste Kleinzeugs in den Rucksack, ne Banane als Frühstück in die Hand und raus aus der Tür. Wieder rein in die Tür, Fenster in der Küche zumachen, Schlüssel und Handy vom Nachttisch nehmen, und wieder raus aus der Tür. Im Treppenhaus merken, die Banane wieder abgelegt und vergessen zu haben. Scheiß drauf!

Immerhin das: Die Straßenbahn ist pünktlich! Naja, das heißt, eigentlich wie immer zwei Minuten zu spät, aber für mich, der ja rund eine Stunde plus zwei Minuten zu spät ist, genau richtig. Rein in die Bahn und erstmal irgendwo auf einen freien Platz geschmissen. Noch mal schnell alles checken. Zwei gleiche Schuhe, zwei gleiche Socken, eine Hose an. Wow, Steffen, hast ja doch noch alles gut hinbekommen. Komischerweise glotzt dennoch so ein komisches Kind von der Sitzbank gegenüber zu mir rüber und grinst sich einen.

„Na, kleine. Was kicherste denn so?“
„Du bist komisch!“
„Jaha.. spricht sich mein irrwitziger Humor schon bis in die Kindergärten rum?!“
„Hihi. Nein, aber der große Fleck da ist lustig!“

Oh Nein! Hose an: Ja. Vorher gecheckt, ob es nicht die nur noch zu Streich- und Arbeitszwecken zu nutzende Altjeans ist, mit der ich mich anno 2001 bei einer Familienfeier auf die Blaubeertorte gesetzt habe: Dööööht. Natürlich nicht. Verdammt, da muss ich jetzt wohl durch. An der Haltestation Hauptbahnhof angekommen, kann ich mir beim rausgehen allerdings nicht den Kommentar „Den Weihnachtsmann gibt es gar nicht!“ in Richtung des kleinen Mädchens verkneifen.

Meine letzte Hoffnung, den primär eingeplanten Zug Richtung Dortmund noch zu erwischen, zerschlug sich in dem Moment, in dem ich auf die Fahrzeitentafel blickte. Keine Verspätungen. Das kann ja wohl nicht sein. Der Zug war somit pünktlich. Pünktlich angekommen, und pünktlich losgefahren.

„Eine Durchsage: Steffen Burghaus hat momentan eine kleine Verzögerung. Aufgrund technischer Billiggeräte und duseliger Kicher-Kinder, wird er den Endpunkt Hauptbahnhof mit etwa 2 Minuten Verspätung erreichen. Keine Bange, ihre Anschlusszüge werden sie alle verpassen!“

Toller Mist. Einmal in meinem Leben ist ne Bahn pünktlich, und dann bin ich es mal einmal nicht. Egal, nun habe ich wenigstens Zeit noch mal auf’s Klo zu gehen. Neben diverser Notdürfte verrichte ich spontan noch einen Hosenwechsel, womit mein Kontingent für die kommenden fünf Tage Dortmund-Aufenthalt aufgebraucht wären. Dann noch schnell einen giftigen Blick der Klofrau eingeheimst, aber selbst WENN ich nicht nur einen Fünfzig-Euro Schein in der Tasche hätte, täte es bei ihr nicht klingeln.

Die sonst lästigen gelben Abfahrtanzeigen haben sich natürlich spontan rar gemacht, so dass ich zehn Minuten durch die Halle irre, um endlich eine zu finden. 45 Minuten. Eine Fußballhalbzeit. Drei Steinofenpizza-Garzeiten, zwölf Kippen. Dann kommt mein B-Zug. Und was soll ich bitte in der Zeit anstellen? Mein Magen wusste eine Antwort. Wie ein erwachsener Mann es nun einmal macht, gehe ich natürlich nicht zu McDonalds, um mir um 10 Uhr morgens einen Burger reinzuzimmern. Genau, ich gehe zu Burger King, um mir um zehn Uhr morgens zwei Burger reinzuzimmern. Dazu ein Milch-Shake Banana Split – hach, die Welt ist wieder in Ordnung.

Als der Zug einrollt, stehe ich in erster Reihe am Bahnsteig, etwas eingeschüchtert, durch ein Kartenspielgrüppchen, bestehend aus geschätzten acht Frauen, nahezu dreistelliges Durchschnittsalter. Da eine von ihnen leider das „Die Tür hält genau vor mir“-Los gewonnen hat, versuche ich erst gar nicht hektisch in den Wagen zu kommen, sondern renne hektisch zu einer anderen Tür.

Im Waggon ist schnell ein Platz gefunden. Noch schnell ein prüfender Blick. Ha, keine Reservierung! Mit Tisch, mit Fenster, mit Armlehne, mit allem drum und dran. Erleichtert lasse ich mich in den Sitz fallen und sehe den armen hektischen Nachkömmlingen zu, wie sie sich zwanghaft einen Platz suchen. Dazu die Ohrstöpsel meines MP3-Players rein…

„Oh lord, won’t you buy me, a Merce…“

…und wieder raus. Eine ältere Dame stubst mich mehrfach mit ihren knöchrigen Fingern in die Seite.

„Junger Mann?!“
„Hää?“
„Das ist unser Platz, auf dem Sie da sitzen!“
„Bitte wie meinen?“
„Den haben wir reserviert!“
„Aber ich hatte doch extra geguckt…“
„Ja, manchmal schalten sie die später erst ein…“

Tatsache! Auf einmal blinkt über meinem Kopf ein klares „Hannover Hbf – Bielefeld Hbf“. Mist… in der Zeit hätte ich locker woanders nen Platz gefunden, nun scheint alles voll. Und der Zug fängt an zu rollen. Schnell alles zusammengepackt und in den Nachbarwaggon. Auch hier scheint alles voll zu sein. Nein! Hinten links ist anscheinend noch ein Platz frei. Aufgrund der etwas überschlanken Person auf dem Nachbarsitz schien dieser zuerst besetzt zu sein. Auf der Reservierungsanzeige ist „Hannover Hbf – Dortmund Hbf“ zu sehen. Aber der Zug ist ja schon in Bewegung, und weit und breit niemand zu sehen, der den Platz in Anspruch nimmt. Und nach einigen Minuten sehe ich mich in meiner Entscheidung, den Platz zu besetzen, mehr als bestätigt, denn die Reservierungslampe erlischt.

„…des Bence?! My friends all drive Por…“

Erneut werde ich aus dem kurzen Musikintermezzo geprügelt.

„Nein, ich möchte nichts trinken, danke.“
„Ähm, das ist mein Platz, auf dem Sie da sitzen.“

Sabbelt es und hält demonstrierend eine Platzkarte in die Luft.

„Aber, das Licht ist bereits aus,…“
„15 Minuten!“
„Was, 15 Minuten?“
„So lange hat man noch ein Anrecht darauf. 10:49 Abfahrt, 11:04 erlischt es…“

Und wir haben 11:03 Uhr. Bingo. Erneut sammel ich meine Sachen und stehe auf. Ich versuche erst gar nicht im nächsten Waggon unter zu kommen, sondern hocke mich im Zwischenbereich vor den Toiletten hin. Gar nicht mal soo unbequem.

30 Minuten und fünf Sitzpositionswechsel später, denke ich weitaus anders darüber. Es macht schon was aus, die drei Euronen Gebühr für eine Sitzplatzkarte zu blechen. Das weiß man erst nach einem solchen Trip zu schätzen. Wundert mich, dass nicht auch hier jemand kam, und meinte, der Platz würde ihm gehören, und auf ein über meinen Kopf leuchtendes Schild, oder seinen eingeritzten Namen deuten. Aber das blieb mir immerhin erspart.

Nicht so leider der Dortmunder Bahnhof. Ich dachte ja, der Ruhrpott sei hässlich, aber der Bahnhof…?! Egal, meine Freunde jedenfalls hatten ihren Spaß. Die saßen auf einer der unzahlreichen Bänke, besaßen anscheinend mehr leere, als volle Flaschen Bier in ihrem Kasten und waren happy mich zu sehen.

„Mensch, Steffe, da biste ja auch noch!“
„Tja, kann euch ja nicht hängen lassen. Nett, dass ihr hier gewartet habt.“
„Kein Ding. Du bist doch eh der einzige, der nen Plan hat, wie’s nun zum Hotel geht. Außerdem ging das Bier ja auf Deine Kosten.“
„Hehe, kein Ding. Was macht’n das?“
„28 Euro.“
„WAAS? Achtundzwanzig Euro für nen Kasten Bier?“
„Ist halt teuer am Bahnhof. Ist doch kein Ding, haste gesagt…“
„Sind 28 Dinger… aber egal, Urlaub ist Urlaub.“

4 Kommentare

  1. noemo says

    Und wie gehts weiter?

  2. Maik says

    Wer weiß, vielleicht gibt’s demnächst nen zweiten Teil, wenn er gewünscht sein sollte… ;)

  3. noemo says
  4. Änne says

    Zweiter Teil währe toll!

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