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Neue Kolumne von Owley

Der helvetische Walk of Shame

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Vor Kurzem belauschte ich im Bus das Gespräch zwischen einer Frau und einem Kerl, beide etwa 20 Jahre alt. Sie waren offensichtlich aus dem Ausland und erst seit Kurzem in der Schweiz – vermutlich für ein Austauschsemester oder so. Die Beiden waren sichtlich erfreut, in dieser fremden Gegend jemanden gefunden zu haben, der ebenso fremd war, und erzählten sich gegenseitig, welche Erfahrungen sie schon gemacht hatten.

Und dann fiel – so plötzlich und unverhofft wie der Sommeranfang – ein Satz, der mich ziemlich überraschte. „Neulich habe ich festgestellt, dass ich schon fast eine richtige Schweizerin bin“, erzählte die Frau stolz. Ich stutzte ein bisschen, hatte sie doch eben noch geschildert, wie fremd ihr alles hier war. Auch ihre Begleitung war ein bisschen verwundert.

Sie begann zu erzählen, wie sie ein paar Tage zuvor in einem halbleeren Bus sass. Ausser ihr sei noch eine Handvoll Menschen unterwegs gewesen. Als ihre Haltestelle näher kam, habe sie den Halteknopf gedrückt – jedoch eine Haltestelle zu früh. Als der Bus an der falschen Haltestelle zum Stehen kam, und niemand ausstieg, traf sie eine typisch schweizerische Entscheidung: Sie stieg aus, und ging die restliche Strecke bis zu ihrer eigentlichen Destination zu Fuss.

Ich hätte ihr zu diesem Zeitpunkt am Liebsten den Schweizerpass verliehen – denn was sie beschrieb, das kenne ich (und auch mein Umfeld) nur zu gut. Schweizerischer geht es nun wirklich nicht. Auch ich bin schon oft zu früh aus dem Bus ausgestiegen, weil ich zu früh gedrückt hatte. Einfach weiterfahren geht in dieser Situation nicht. Die verurteilenden Blicke der Mitreisenden, die genau gesehen haben, dass man gedrückt hat, aber nicht ausgestiegen ist, sind unerträglich. Und sei es nur für eine Station. Ganz zu schweigen vom Wissen, dass man jetzt den Busfahrer unnötig bemüht hat.

Es bleibt also nur eine Lösung: Aussteigen, und den helvetischen „Walk of Shame“ unter die Beine zu nehmen. Und wenn es noch so weit und umständlich ist und man dabei zu spät zu einem wichtigen Treffen kommt. Alles lieber, als vor unseren Mitreisenden schlecht dazustehen.

Neulich war ich wieder im Bus unterwegs. Ich wusste, meine Station kam bald und drückte auf den kleinen roten Knopf. Ich warf einen Blick auf den Bildschirm mit den nächsten Haltestellen – und erstarrte vor Schreck. Ich hatte zu früh gedrückt. Verdammt. Ich war zeitlich knapp dran, also was tun? Ich beschloss, meinen inneren Schweizer zu unterdrücken. Der Bus stoppte, und ich blieb drin. Sogleich spürte ich sie im Nacken: Die verachtenden Blicke der Mitreisenden. Mein Herz raste. Der Bus tuckerte derweil gemächlich seiner nächsten Destination entgegen – noch nie hatte sich der Weg zwischen zwei Busstationen so unerträglich lang angefühlt.

Als ich schliesslich schweissgebadet aus dem Bus stieg, beschloss ich, dass es ab und zu auch ganz okay ist, auf seinen inneren Schweizer zu hören.

Der Zürcher Künstler Owley Samter (Website) schreibt und illustriert in seiner Kolumne über die Unterschiede und Vorurteile zwischen der Schweiz und Deutschland.

Ein Kommentar

  1. Timbo says

    Ehm… Ja. Also was soll ich dazu sagen? „Peinlich“
    So schüchtern sind aber nicht alles Schweizer. Ich fände es noch schweizerischer, wenn man zum Busfahrer geht, sich entschuldigt und sagt, dass man versehentlich zu früh gedrückt hat.
    Weil das ist korrekt und so mag man das in der Schweiz.

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